1955 Meine erste Kindheitserinnerung, mein 1. Sturz
Es war an einem Wochenende im Frühjahr 1955 und ich war noch nicht mal 2 Jahre alt. Meine Mutter versuchte mir gerade die langen selbstgestrickten Strümpfe an mein Leibchen zu knöpfen. Draußen war es noch kalt, es war Pfingsten. Die jungen Männer des Dorfes fuhren mit ihren bunt geschmückten Ochsenkarren durch den Ort. Die Menschen standen am Straßenrand und jubelten mit Freude dem Pfingstumzug zu. Eine lange Hose hatte ich noch nicht, auch in den nächsten Monaten hatte ich noch keine, so dass ich im Sommer wie auch im Winter eine kurze Hose trug. Später bekam ich dann eine Lederhose, die nach mehrmaligem Einpullern speckig wurde und somit unverwüstlich war. Schwankend stand ich also auf dem Küchentisch, denn laufen und frei stehen konnte ich noch nicht richtig. Plötzlich kochte die Milch über und meine Mutter war mit einem Sprung zum Ofen unterwegs. Dies war der Grund für meinen ersten Sturz. Als bleibende Erinnerung blieb mir eine Narbe auf der Stirn, direkt am Haaransatz, die man heute noch sehen kann. Es sollte nicht mein letzter Sturz gewesen sein.
– 1953 Der Ursprung meiner Familie, Zweiter Weltkrieg, Flucht, Hornburg, Nachkriegszeit
Meine Oma Emilie lebte alleine auf dem Land mit ihren Kindern in einem kleinen Dorf in Polen, dem damaligen Warthegau. In dieser Gegend lebten ca. 45.000 Deutsche. Mein Opa war im 1. Weltkrieg gefallen. Die kleine Familie bestand aus Oma, ihren drei Söhnen, Heinrich, Waldemar und Ernst und meiner Mutter Maria. Oma sagte immer, wenn sie uns Geschichten von früher erzählte „Meine Heimat“. Ihr Zuhause war ein kleines Bauernhaus mit Stallungen für Kühe, dazu etwas Acker, Wiesen und ein kleiner Teich. Dahinter waren unendliche Wälder mit wilden Tieren und einer üppigen Natur mit vielen Beeren, Pilzen, z. B. Pfifferlingen, die man mit der Sense ernten konnte und Steinpilze in Massen. Für mich klang das immer nach einem Märchenwald und einem Kinderparadies zum Spielen. Dann kam die russische Armee nach Schlesien und vertrieben die Deutschen aus Polen. Aus Angst vor den Russen, hatte sich mein Onkel Waldemar in einem Strohlager versteckt. Die Truppen kamen immer näher und für einen jungen Deutschen konnte das Zusammentreffen durchaus gefährlich sein. So rutschte er immer tiefer und plötzlich merkte er, dass er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Er traute sich wohl auch nicht um Hilfe zu rufen und irgendwann verließen ihn die Kräfte. Es dauerte mehrere Tage bis man ihn dann fand. Durch dieses schreckliche Erlebnis hatte er einen psychischen Schaden erlitten. “Onkel Waldemar hat einen kleinen Dachschaden“, so sagten die Leute. Omas Sohn Ernst ist vor dem Einmarsch der russischen Armee verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Er sollte das Vieh mit ein paar polnischen Jungs vor den Russen verstecken. Später sagte man, die Polen haben das Vieh gestohlen und unseren Ernst umgebracht. Der älteste Sohn Heinrich ist im 2. Weltkrieg durch einen Kopfschuss gefallen. Oma lebte nun alleine mit Waldemar in Schlesien, denn meine Mutter war als junges Mädchen 1938 nach Berlin in die Dienste eines Barons gegangen um ihre Pflichtjahre abzuleisten. Sie lernte in dieser Stellung den Haushalt zu führen und alle häuslichen Arbeiten zu erledigen. Manchmal war sie auch das Kindermädchen für den adligen Nachwuchs. Vor allem aber lernte sie Backen und Kochen. Sie war für mich später immer die beste Köchin der Welt. In den freien Stunden lernte sie meinen Vater kennen. Friedrich Fuhrmann war in Berlin als Soldat in der Ausbildung. Er war eigentlich in Bochum geboren und kam später mit seinen Eltern nach Wittenberg. Nach seiner abgeschlossenen Lehre als Fleischer, hätte er in diesem Beruf auch gerne gearbeitet, aber stattdessen wurde er in die Armee eingezogen und sollte im Dienst des Nationalsozialismus Menschen erschießen. Mit 18 Jahren musste er an die Front. Im Urlaub zwischen den Kriegseinsätzen, wurde meine Schwester gezeugt. Sie wurde ein bildhübsches Mädchen mit dem Namen Renate und ist seit meiner Geburt bis heute ganz wichtig in meinem Leben. Meine Schwester Renate wurde 1944 im Krieg geboren und hat nur mit viel Glück die Flucht vor der Front im Osten überlebt. Dafür bin ich sehr dankbar, denn sie war in meiner Kindheit immer meine wichtigste Bezugsperson. Außerdem erlebt und sieht man als kleiner Bruder einer neun Jahre älteren Schwester viele Dinge viel eher und schneller. Wer selber eine ältere Schwester hat, der weiß von was ich rede. Nach der Geburt von Renate ist meine Mutter vor den Bombenangriffen in Berlin nach Polen zur Oma geflüchtet. Sie dachte, dass sie dort mit ihrem Kind in Sicherheit wäre. Bomben vielen hier keine, doch die Front im Osten kam immer näher. Wieder folgte eine Flucht, die meine Schwester fast mit ihrem Leben bezahlt hätte. Mit einem vollgepackten Pferdewagen begann die Reise nach Deutschland. Es war Winter und die nassen Windeln des Säuglings wurden nie richtig trocken. Eine Lungenentzündung brachte meine Schwester fast um. Schon aufgegeben, sollte meine Mutter unsere Renate in eine Kirche legen. Der Instinkt und der Mut einer Mutter retteten dem Kind aber das Leben. Im Gleichklang mit den Geschützen im Rücken und den Bomben von vorn und durch zerstörte Städte, endete die Fahrt als Flüchtlingsfamilie in einem kleinen Dorf am Harz. In Hornburg überstanden Oma Emilie, ihr Sohn Waldemar, ihre Tochter Maria und Renate den Krieg. Erst kamen die Amerikaner und dann kamen die Russen. Als fest stand wie Deutschland aufgeteilt wird, stand auch fest, dass die Russen bleiben würden. Die Flucht meiner Familie endete also im sowjetischen Bereich Deutschlands, in der russischen Zone, der späteren Ostzone oder auch dann DDR genannt. In einer Villa, die die Gutsherren aus Angst vor den Russen zurückgelassen hatten, wurden sie und noch drei weitere kleine Familien einquartiert. Mein Vater war noch in Gefangenschaft, erst in Amerika und dann in England. Im Krieg war er Koch und hat bestimmt keinen Menschen erschossen, jedenfalls machte ich mir das immer glaubend. 1949 kam er endlich nach Hause. Später hat er mir erzählt, dass er gegen Kriegsende in Frankreich hunderten Soldaten das Leben gerettet hatte. Eingekesselt in einem kleinen Wald, wurde seine Einheit von den Amerikanern umlagert. Ein Schuss hätte den Tod seiner gesamten Kameraden bedeutet. Mit erhobenen Händen hat mein Vater den Anfang gemacht und seine Einheit aus dem Wald geführt. Für mich war mein Vater ein Held und ich habe ihn damals schon als sehr mutig empfunden und nicht als Feigling oder Verräter. Auch hat er in der Gefangenschaft einem englischen Paar an der englischen Steilküste, die die kommende Flut unterschätzt hatten, das Leben gerettet. Dieses Ehepaar hat nach dem Krieg noch oft Pakete geschickt. Ich kann mich noch gut an eine mit Leckereien gefüllte Blechkiste erinnern. In dieser Blechkiste bewahrten später meine Eltern die wichtigen Familienpapiere auf. Jetzt hat sie meine Schwester und bewahrte darin die Papiere unserer über 95jährigen Mutter auf, die in einem Altersheim wieder bei Berlin lebt. Diese Blechkiste hat unsere Familie viele Jahrzehnte begleitet und begleitet uns noch immer.
1953 – 1960 Meine Geburt, frühe Kindheit
Nun möchte ich darüber berichten wie das Leben in der damaligen Zeit war, die Bodenreform auf dem Land, die jungen DDR, noch unter Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Ich erzähle von meinem sozialistischen Vaterland, dem von Russland besetzten Deutschland, dem Land, in dem ich groß geworden bin. Nacht für Nacht verriegelten Nachbarn die Läden ihrer Häuser und waren auf einmal weg. Man erzählte dann: “Die sind in den Westen abgehauen“. Für mich war der Westen nicht einmal eine Himmelsrichtung. Für mich gab es nur meine Mutter, meine Schwester und meinen Vater. Und das Wichtigste war natürlich meine Zeugung. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar. Es war das Jahr 1953. Wir hatten kein Radio und auch keine Zeitung. Die einzigen Informanten waren die Nachbarn und der Ortsvorsteher. Die Menschen in der Ostzone kämpften damals um ihre Freiheit und ihre Rechte. Später wurde dieses Jahr mit dem 17. Juni, als Tag der Befreiung, im Westen gefeiert. Im Osten wurde dieser Tag nie gefeiert, höchstens in meiner Familie, nämlich mit meinem Geburtstag am 22. Juli. Für mich war es eine schöne Zeit. Meine Eltern waren jung und gesund. Sie hatten Zeit für mich, meine Schwester und meine Omi Emilie. Und wenn sie keine Zeit hatten, dann passte meine Schwester auf mich auf. Einmal hat mich Renate in meinem Kinderwagen in unseren Dorfteich gefahren, denn das Hüten des kleinen Bruders kann einem auch mal auf den Nerv gehen, wenn die Freundinnen zum Spielen kamen oder andere interessantere Dinge anstanden. Ganz allein bin ich dann schreiend und nackt durch das Dorf nach Hause gelaufen. Autos gab es damals noch keine und der Bauer, der mit seinem Gespann an mir vorbeifuhr, hatte genug Zeit, um auszuweichen und wahrscheinlich hatte er auch ein Lächeln auf den Lippen.
Ein wenig kannte ich mich ja aus im Dorf. Gleich in der Nachbarschaft wohnten Jablonskys. Ich kannte ihren Bauernhof und dorthin wollte ich eigentlich laufen. Aber ich hatte große Angst vor dem „Schwarzem Hengst“. Er war ein stattlicher Rappen, von dem man sagte, dass er sehr gefährlich sei und dass er sogar über das große Tor springen konnte. Jablonskys waren auch aus Polen zurück nach Deutschland gekommen. Sie rollten beim Sprechen immer das „R“. Mutter sagte, sie sprechen wie Ostpreußen. Das war auch typisches Merkmal von Herr Reich-Ranicki. Immer wenn ich ihn im Fernsehen sah, habe ich an Jablonskys, ihren schwarzen Hengst und an meine Kindheit in Hornburg gedacht. In unserem Dorf gab es nur eine Dreschmaschine und die stand auf dem Hof von Jablonskys. Hier wurde von allen Bauern das Korn aus den Ähren gedroschen. Die Männer mähten das Getreide mit Sensen. Die Frauen banden die Halme zu Garben und die wurden wiederum zu Puppen zusammengestellt. Später wurde dann alles auf große Pferdefuhrwerke oder Leiterwagen gestapelt und vom Feld geholt. Jede Familie hatte auf diese Art ihr eigenes Korn, das sie später zur Mühle brachte und dann als Mehl in Säcken wieder zurückbekam. Wieviel jeder Bauer davon behalten durfte weiß ich nicht. Aber den größten Teil davon bekam auf alle Fälle der Staat. So haben wir schon als Kinder erlebt, wie das Korn auf dem Feld wächst, wie es gemeinsam geerntet wird und schließlich durch vieler Hände Arbeit zu Mehl wird. Mehl war für uns ein wichtiges Gut, denn es lieferte uns unser tägliches Brot. Ähnlich war es bei Kartoffeln und Obst. Wir Kinder waren überall mit eingebunden. Wir halfen bei der Ernte und beim Einlagern. Alles was die Natur den Menschen gab, wurde geachtet und verwertet. Nichts ist verdorben. Auch die letzten Reste wurden gesammelt und an die Schweine verfüttert. Und diese Schweine wurden irgendwann geschlachtet und zu Wurst oder Schinken verarbeitet. Einmal im Jahr und zwar immer vor Weihnachten wurde geschlachtet. Wenn man ein Schwein für sich verwerten wollte, musste man die Auflagen erfüllen und insgesamt drei Schweine groß füttern. Zwei Schweine wurden dann vom Staat abgeholt und das 3. Schwein durfte man behalten. Das Schlachtfest war ein Großereignis für die ganze Familie. Als Kinder mussten wir an die Nachbaren Wurstsuppe austragen. Besonders gute Nachbaren bekamen in dieser Wurstbrühe noch kleine Rotwürste als Zugabe. Das geschlachtete Schwein musste für ein Jahr den Eigenbedarf an Wurst, Schinken und Speck abdecken. So versorgten die Bauern durch ihre Abgabe von 2 Schweinen die Menschen in der Stadt und hatten selber trotzdem nie Hunger.
Damals bekam mein Vater keine richtige Arbeit und so half er in der Landwirtschaft mit, um die Familie zu unterstützen. Durch mich, also durch den Familienzuwachs, konnten wir aus der beengten Wohnung in der Villa in eine kleine Gemeindewohnung umziehen. Jetzt hatten wir eine Küche, ein großes Schlafzimmer, in dem alle schlafen konnten und ein kleines Wohnzimmer. In dem Haus wohnten noch zwei weitere Familien mit kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Detlef und Tatjana waren meine ersten kleinen Freunde und wir spielten den ganzen Tag zusammen. Wir hatten auch einen Hof, mit Stallungen und einer Wasserpumpe. Trotzdem gab es bei uns auf dem Hof noch eine Wasserpumpe. Mit diesem Grundwasser wurde das Vieh getränkt oder auch die Wäsche gewaschen. Es gab damals noch keine moderne Wasserleitung, aber später wurde ein kleines Wasserwerk gebaut, damit wir Wasser aus der Leitung bekamen. Unsere Pumpe musste trotzdem im Sommer wie im Winter funktionieren. Sie war auch für unser Plumpsklo wichtig, eine kleine Bretterbude an unseren Misthaufen gebaut. Dieser Misthaufen wurde immer vor dem Winter geleert, um mit dem Mist, die Felder zu düngen. Alles was man essen wollte, musste man selbst anbauen und ernten. Außerdem hatten wir ein Waschhaus mit einem Ofen und einem großen Kessel. Der Kessel diente einmal zum Kochen der Wäsche, aber auch zum Kochen der Würste bei unserem Schlachtfest. Wir haben gelernt mit dem auszukommen was wir hatten. Dabei entstanden gut funktionierende Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützten und daraus bildeten sich auch gute Freundschaften. Gemeinsam wurde gesät, geerntet, gesungen und getanzt. Vor allem wurde immer organisiert und improvisiert. Das Leben auf dem Land war einfach, aber schön. Alles war etwas langsamer und bedächtig. Man hatte nicht zu hohe Ansprüche, trotzdem funktionierte alles im täglichen Leben und die Menschen begegneten sich mit mehr Aufmerksamkeit. Autos und andere motorisierte Fortbewegungsmittel gab nicht. Auch im Haushalt gab es kaum elektrische Geräte. Trotzdem mussten wir nicht ganz auf jeden Luxus verzichten. Zum Beispiel hatten wir an besonderen Tagen auch immer Schlagsahne zu den leckeren Kuchen, die unsere Mutter gebacken hat. Bei ihr habe ich gelernt, wie man aus Milch und Butter selber Schlagsahne herstellt. Man musste Milch und Butter nur erhitzen und zuckern und dann das ganze richtig schaumig rühren. Wenn die Masse richtig kalt war, konnte man sie steif schlagen. Als Kind konnte ich es natürlich noch nicht richtig wertschätzen, aber es war für mich später immer eine wichtige Erfahrung, dass mir meine Eltern und meine Großmutter so viel aus dem Lexikon der Natur gezeigt haben. Es war eine gute Schule für das Leben auf dem Land.
Der Hornburger Wald war das Ziel vieler gemeinsamer Wanderungen. Dort haben wir nicht nur versteckte Ostereier gesucht, sondern auch Beeren gepflückt und im Herbst Pilze gesammelt. Im Wald konnte man auch geschichtsträchtige Plätze finden. Dort gab es einen Steinbruch, in dem früher unter großen Mühen Granit abgebaut wurde und wo man in meiner Kindheit die schönsten Steinpilze finden konnte. Am Wegesrand stand das Förster-Denkmal, das daran erinnerte, dass hier ein Wilderer den örtlichen Förster erschossen hatte. Besonders beindruckte mich aber die Geschichte von zwei Steinsäulen im sogenannten Nonnengrund, die von der verbotenen Liebe zwischen einer Nonne und einem Mönch erzählte. Die beiden hatten sich immer heimlich getroffen, denn ihre Klöster in Helfta und Holzzelle sollen durch einen sehr langen Tunnel verbunden gewesen sein. Irgendwann wurden sie aber doch erwischt und zur Strafe bei lebendigem Leibe in je eine Steinsäule eingemauert. Inzwischen ist der Hornburger Wald so stark verwachsen, dass man all diese Dinge nur schwer finden kann. Manchmal fahre ich noch hin, um in alten Erinnerungen zu kramen. Besonders schön ist es dort im Mai, wenn alles mit Tausenden von Maiglöckchen geschmückt ist.
Auf dem Land groß zu werden war für mich als kleiner Junge voller Erlebnisse. Das Landleben konnte für eine kleinen Jungen aber auch gefährlich sein. An dieser Stelle muss ich unbedingt von meinem 2. Sturz erzählen, der in unserer Jauchegrube endete. Immer wenn der Misthaufen und die Grube geleert wurden, blieb eine tiefe und eklig stinkende Flüssigkeit übrig. Unsere Mistgrube war umrahmt von einer Steinkante aus Ziegel, eine ideale Rennstrecke für einen kleinen fast dreijährigen Jungen. Nach einem Stolperer landete ich in der Grube und mit einem intuitiven Unterwasser-(Jauche)-Schwimmzug durchquerte ich unseren „Land-Pool“. Irgendwie konnte ich mich alleine aus der Grube retten und habe nach meiner Schwester gerufen. „Naaate, Naaate“ schrie ich aus vollem Hals und wie so oft hat mir meine Schwester in dieser misslichen Lage geholfen. Bevor unsere Mutter etwas mitbekam und sich ängstigte, hat mich meine Schwester gewaschen und wieder hübsch gemacht. Dieser Sturz mit dem großen Schluck aus dem Land-Pool war bestimmt auch die Ursache dafür, dass ich 25 cm größer wurde als meine Eltern alle anderen Familienmitglieder. Die Auswirkungen waren wohl so ähnlich wie bei Obelix, der als Kind in den Zaubertrank gefallen ist. Mit 1,92 m hatte ich später die Maße und die Grundlagen für einen guten Sportler. Oma Emilie und Onkel Waldemar waren sogenannte Neubauern, sie bestellten das Land, das uns ernährte. Für uns Kinder war das Landleben ein Paradies zum Spielen. Besonders aufregend war das Versteck spielen im Stroh, weil es für uns auf Strengste verboten war, schließlich wurde das seinerzeit für meinen Onkel Waldemar zum Verhängnis wurde. Für uns Kinder war Onkel Waldemar ziemlich unheimlich und beim Spielen waren wir später immer auf der Flucht vor ihm. Meine Mutter und Renate waren zu Hause und halfen manchmal bei der Ernte. Besonders gut kann ich mich daran erinnern, dass wir gemeinsam in den Wald gelaufen sind, um die am Rand stehenden Kirschbäume abzupflücken. Die langen Leitern, die bis in die Baumspitzen reichten und bestimmt mehr als 10 m hoch waren, mussten von den Frauen ganz alleine bewältigt werden. Ich spielte dann auf den Wiesen am Waldesrand, die zur Kirschzeit voller Blumen prachtvoll blühten.
Im Spätherbst wurde in den Höfen das Federvieh für den Weihnachtsbraten geschlachtet und gerupft. Es waren bestimmt mehr als 100 Tiere: Gänse, Enten, Puten und Flugenten. Eine Flugente ist größer und hat das Fleisch einer Wildente. Die Federn wurden in Stoffsäcken gesammelt. Wenn dann die Arbeiten auf den Feldern und in den Gärten durch den einbrechenden Winter nicht mehr möglich waren, kamen die Frauen zum „Federschleißen“ zusammen. Sie versammelten sich im größten Raum mit dem größten Tisch. Als Stärkung gab es Kaffee und Kuchen und Kaffee und ein kleines Schnäpschen durfte auch nicht fehlen. Es waren bestimmt 40 Hände, die nun anfingen die Daunen von den Federkielen zu trennen und wohlbehütet in saubere Kissen zu stopfen. Diese alte traditionelle Arbeit der armen Bauern war immer noch notwendig, weil man keine mit Federn gefüllte Bettdecken und Kopfkissen kaufen konnte, nicht einmal in der Stadt. Als Ersatz wurden stattdessen Heu und Stroh verwendet. Unter dem großen Tisch hatten wir Kinder viel Platz. Wir hörten gespannt zu, wenn die „alten Weiber“ ihre Geschichten von früher erzählten. Diese Erzählungen konnte man nirgends lesen oder auch in keinem Radio hören. Sie wurden aus dem Herzen erzählt und waren so authentisch, dass wir Kinder uns mit jedem Satz das Geschehen bildlich vorstellen konnten und selber ein Bestandteil der Geschichte wurden. Die Frauen berichteten über Gräueltaten, unheimliche Begebenheiten oder über mutige Helden. Viele Hände bringen ein schnelles Ende der Arbeit. Geselligkeit und Humor gingen auch in der Armut nicht verloren. In der Gemeinschaft wurde gemeinsames Leid erträglicher. Wir hatten nicht viel, aber für uns Kinder war es ausreichend. Nur mir fehlte mir etwas. Das war immer noch eine lange Hose! Meistens wurde unsere Kleidung selbst genäht, gestrickt oder gehäkelt. Und wie bereits erzählt, hat es lange gedauert, bis ich meine erste lange Hose bekommen habe. Es war natürliche eine alte umgearbeitete Hose, aus was und vom wem, das weiß ich nicht mehr. Ich war sehr stolz und zufrieden. Nie wieder ein Leibchen tragen müssen! Meiner Lederhose blieb ich aber treu. Mit einer Lederhose kann ein Junge von April bis Oktober alle Spielphasen überstehen, ohne waschen und flicken, Hauptsache speckig. Mein Vater ging zu dieser Zeit als Bergmann ins Bergwerk. Eines Tages musste er in ein Bergwerk ins Erzgebirge. Später habe ich erfahren, dass er sich für 2 Jahre dorthin verpflichten musste. Er ist in Bergwerke eingefahren, die von der Wismut AG und den Russen betrieben wurden. Man förderte dort ein Gestein mit einem hohen Urananteil. Diese Pechblende hat ihn später umgebracht. Die Uranstrahlung hat ihn sehr krank gemacht und er starb in jungen Jahren an Krebs. Er wurde nur 58 Jahre. Mein Vater hat das alles damals auf sich genommen, um einen sicheren Arbeitsplatz zu bekommen und dadurch für seine Familie besser sorgen zu können. Nach diesen zwei Jahren ging mein Vater in die Brikettfabrik nach Stedten. Nun hatten wir Anspruch auf eine Wohnung in einer Neubausiedlung in Röblingen, die nur für die Arbeiter der Brikettfabrik vorbehalten war. Unser neues Zuhause war in Lehmbauweise errichtet und die dicken Wände sorgten dafür, dass im Sommer die Wärme draußen blieb und im Winter die Wärme gespeichert wurde. Die Häuser standen in Blocks zusammen und in jedem Haus wohnten vier Familien, im Erdgeschoss zwei und im 1. Stock nochmal zwei. So ging es also eines Tages los und wir sind wieder mit einem Pferdewagen mit Sack und Pack in eine neue Heimat gefahren. Mein neues Zuhause war nun der Ort Röblingen/Neue Siedlung. Unsere Wohnung hatte 66 m², die auf vier Räume aufgeteilt waren. Die moderne Heizung bestand aus einem Kachelofen in der Stube und einem Badeofen für heißes Wasser. Die Wohnung war wunderschön, denn wir hatten im Bad eine Toilette. Wir brauchten nie wieder über den Hof zum Plumpsklo neben dem Misthaufen zu laufen. Wir hatten auch einen Boden zum Trocknen der Wäsche und einen Keller für Vorräte und das Einlagern von Kartoffel, Kohlen und Holz. Dort standen auch Regale für die vielen Marmeladen- und Einweckgläser. Wir wohnten im Erdgeschoss. Anfangs dachte ich immer, dass das Wohnen im 1. Stock etwas für bessere Leute war. Dies war auch dadurch begründet, dass die Familie, die uns gegenüber wohnte, nicht den besten Eindruck machte.
Mein Vater ging in diese Brikettfabrik zur Schichtarbeit. Es gab eine Früh-, eine Mittag- und eine Nachtschicht. Da die neue Wohnung noch nicht fertig eingerichtet war und das Geld vorn und hinten nicht reichte, musste meine Mutter ebenfalls mitverdienen. Ein Arbeiter bekam zu dieser Zeit ein Gehalt von 580 Ostmark, so mussten also knapp 1200 Mark für eine vierköpfige Familie reichen. Im Winter 1956 hat sie mich dann mit dem Schlitten zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht. Eine sehr dicke Frau begrüßte uns. Wenn wir Kinder Mittagsschlaf halten sollten, kam sie immer und kontrollierte, ob wir auch die Augen zu hatten und keine Faxen machten. Sie ging durch die Reihen und stand mit ihrem weiten Rock über unseren Köpfen, sodass ich beim Illern (=verstohlen gucken) mal unter ihren Rock gucken konnte. Ich glaube, es war kein schöner Anblick. Jeden Morgen brachte mich meine Mutter dorthin und ging dann in die Arbeit. Die Schichtarbeit von Mutter und Vater bedeutete, dass auch wir Kinder mehr Pflichten hatten. So nahm meine Schwester immer mehr die Rolle meiner Mutter ein. Sie war in dieser Zeit meine wichtigste Bezugsperson. Meine liebe Omi Emilie blieb bei ihrem Sohn Waldemar in Hornburg. Als er später eine eigene Familie gründete, ist sie in eine kleine Gemeindewohnung gezogen. Diese Wohnung war wirklich sehr beengt und lag direkt unterm Dach. Im Prinzip war es ein ausgebauter Dachboden, aber ohne Isolierung. Da durch einen Raum der Wohnung der Schornstein des Hauses verlief, war dort ein Ofen angeschlossen, der mit Holz und Kohlen befeuert wurde. Dieser Raum wurde als Wohnkammer genutzt. Der Ofen wurde nicht nur zum Heizen, sondern auch zum Kochen benutzt. Es gab noch einen großen braunen Ledersessel, einen Tisch mit drei Stühlen und ein kleines Regal. Rechts und links gingen zwei kleine schräge ungeheizte Räume ab. In der einen Kammer wurden die Vorräte verstaut und in der anderen Kammer stand ein einfaches Bett mit Federkissen und Zudecke und ein Schrank. Im Winter war es manchmal so kalt, dass man die Eiskristalle auf der Bettdecke glitzern sah. Im Schrank hingen nur wenige Sachen zum Anziehen, aber dort stand ein großer Weinballon, gefüllt mit selbst angesetztem, süßem Rotwein. Manchmal habe ich heimlich mit einem dünnen Gummischlauch den süßen Saft aus dem Ballon gesogen. Außerdem gab es bei Oma immer getrocknete Kürbiskerne. Meine Omi hatte nicht viel, aber sie schien mir immer zufrieden zu sein. Sie hatte einen kleinen Garten und fütterte ein Schwein. Sie musste nur noch ihr Schwein füttern, aber viel Arbeit hatte sie trotzdem damit. Für uns war es dann immer besonders schön, wenn wir vor Weihnachten zum Schlachtfest fahren konnten, um ihr zu helfen. Es gab bei uns zu dieser Zeit schon einen Bäcker, einen Fleischer und auch einen fahrenden Laden mit anderen Lebensmitteln, die oft mit Wertmarken zugeteilt wurden. Auch in dieser Zeit musste ich nie hungern und es war eine schöne Zeit. Meine Oma hatte eine Rente von 75 Ostmark. Sie hat beim Pfarrer Kirchendienste übernommen und so ihren Unterhalt mit einem Teller warmer Speisen aufgebessert. Manchmal, wenn ich sie besucht habe, konnte ich mit ihr auf den Kirchturm der ganz alten Kirche in Hornburg gehen. Er hatte keine Fenster und eine sehr alte Treppe. Eine wichtige Aufgabe war damals, dass sie die Glocken an Festtagen läutete, zum Beispiel in der Weihnachtszeit. Die Kirche stand mitten im Friedhof und da es im Winter am Abend schon sehr zeitig dunkel wurde, war dieser Gang mit ihr immer ein schauriges Erlebnis. Mit meiner Oma über knarrende Treppen in den Kirchturm zu steigen, die Fledermäuse bei Kerzenlicht schwirren zu sehen und den kalten Wind durch die Maueröffnungen zu spüren, das habe ich nie vergessen. Ich hatte großes Vertrauen und nie Angst. Für mich war es ein großes Abenteuer. Wenn es dann Schlafenszeit wurde, haben wir uns beide ins Bett gekuschelt. Oma Emilie hat mir immer Geschichten erzählt, so lange bis ich eingeschlafen bin. Eine besonders gruselige Geschichte handelte von der „Weißen Frau“. So erzählte sie die Geschichte: „Unser Feld lag am Waldesrand und er Weg von dort nach Hause war lang. Es dämmerte schon und der Herbstwind schüttelte die Blätter aus den Bäumen. Es wurde immer dunkler und kälter und mir war sehr unheimlich zu Mute. Plötzlich sah ich ungefähr 30 Meter vor mir weiße, hagere Gestalt stehen. Sie war überall weiß, auch ihre Haare und ihr Gesicht. Sie sah aus wie ein Geist!“ Ich war nun bis unter die Haarwurzeln gespannt und immer noch putz munter. „Erzähl weiter“ sagte ich zu meiner Omi. Ich hatte keine Angst vor Geister, denn ich war ja stark und außerdem hatte meine Omi an meiner Seite. Die war so mutig, dass sie nachts über den Friedhof lief, um an Weinachten im Kirchstuhl die Glocken zu läuten. Vielleicht hatte ich auch deshalb keine Angst, weil ich die gemachte Furcht aus Funk und Fernsehen noch nicht kannte. So erzählte sie weiter: „Ich musste an der weißen Gestalt vorbei, denn es gab keinen anderen Weg nach Hause. Als ich immer näherkam, blieb ich für einen Moment stehen. Plötzlich wurde der Wind immer stürmischer, als ob er mich warnen wollte. Doch die Neugierde überwand die Angst und ich trat näher. Nun sah ich, dass es eine Frau war. Ich berührte ihre Hand, die sie mir mit einer leichten Bewegung nach vorn entgegenstreckte. Erschrocken wich ich zurück, denn die Hand war eiskalt und feucht. Plötzlich wurde der Sturm immer stärker und die Frau wich vor mir zurück, wie ein Nebel in der Nacht. Seit dieser Zeit hatte ich graue Haare.“ Sagte Sie! Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen, aber die Geschichte von der „Weißen Frau“ habe ich nie vergessen.
Vom Frühling bis in den Herbst war unser Schrebergarten eine herrliche Oase und gleichzeitig unsere Versorgungsstelle mit allem, was die Natur in den jeweiligen Jahreszeiten zu bieten hatte. Wir waren damals Selbstversorger und alles was wir ernteten schmeckte lecker und war bekömmlich. Mein Vater hat mit viel Mühe eine kleine Laube gebaut und für mich eine Schaukel an einem Apfelbaum montiert. Mit zwei alten Seilen und einem Brett als Sitzfläche erfüllte sie voll ihre Aufgabe und es musste nichts neu gekauft werden. Das frische Gemüse aus dem Garten war wunderbar und ich habe den Geschmack der Schoten, Kohlrabi und Tomaten noch heute auf der Zunge. Die Erdbeerzeit war immer besonders ergiebig und so konnten wir die Früchte eimerweise nach Hause tragen und einwecken. Birnen, Äpfel, Gemüse und Kartoffel wurden eingelagert. Gurken und Sauerkraut wurden in großen Steintöpfen in Lake konserviert. Eine Schmalzschnitte mit Gurken aus diesem Topf war eine Delikatesse. Von meinem Vater habe ich auch gelernt, wie man aus Früchten Wein macht. Diese Tradition habe ich auch noch nach seinem Tod beibehalten und selber Wein angesetzt. Besonders gut schmeckte der Wein aus Sauerkirschen und Hagebutten. Im Herbst sind wir auch oft in den Wald gegangen. Auf dem Weg dorthin sind wir mit den Fahrrädern an vielen Feldern vorbei geradelt. Wenn unsere Körbe auf der Rückfahrt nicht mit Pilzen gefüllt waren, haben wir dann die Taschen und Körbe mit Zwiebeln oder Kartoffeln gefüllt. Jedenfalls waren wir immer auf der Suche nach etwas Essbarem und brachten auch immer etwas mit nach Hause. In der Zeit gab es Buttermarken und Lebensmittelmarken für Fisch und Gemüse. Die Menschen wurden mit einem mobilen Wagen mit Lebensmittel versorgt. Später wurde eine Kaufhalle mit dem Namen HO oder Konsum gebaut. 2 kg Brot kosteten weniger als eine Mark und eine Selterswasser 14 Pfennige. Ein Kasten Bier mit 24 Flaschen wurde im Volksmund nur 14,40 genannt, denn so viel hat er gekostet.
1958 zog bei meinen Eltern der Wohlstand ein, denn sie hatten nun genug für einen Fernsehapparat angespart. Unser „Alex“ hatte eine 40er Bildröhre und war natürlich nur ein Schwarz-Weiß-Gerät. Der erste Krimi, den ich als Kind durch den Türschlitz erspähen konnte, war aus dem Westfernsehen mit dem Titel „Stahlnetz“. Später durfte ich Filme wie z. B. „Am Fuß der blauen Berge“ oder „Fury“ anschauen. Wir schauten, obwohl es streng verboten war, oft Westfernsehen. Für eventuelle Kontrollfragen von Spitzeln, z. B. Später unsere Lehrer, versuchten mir meine Eltern damals beizubringen, wie die Uhren bei der „Aktuellen Kamera“ und bei der „Tagesschau“ aussahen. Ich musste auswendig lernen, welche Uhr als Minutenanzeige Punkte und welche Striche hatte. Irgendwann schauten alle Westfernsehen und die Kontrollfragen wurden weniger, doch die heimlichen Kontrolleure wurden immer mehr. Damals merkte man aber noch nichts von Polizei oder Stasi, vielmehr ging es darum beim Betriebs-Gewerkschafts-Leiter BGL nicht negativ aufzufallen. Er verteilte nämlich für gute Arbeit die Prämien und Urlaubsziele. So hatten wir einmal das Glück in ein Ferienhaus an die Ostsee zu fahren. Dieser erste Ostseeurlaub, mit dem blauen, schäumenden Wasser, den weißen Wellenkämmen und dem Schreien der Möwen, war für mich eine unvergessliche Kindheitserinnerung.
Schon die Anreise zur Ostsee war ein Abenteuer. Die Koffer und Taschen wurden schon zwei Tage schon vorher fertig gepackt. Nichts Wichtiges durfte vergessen werden und der kleinste Hohlraum wurde in den Taschen genutzt. Da es unsere erste Ostseereise war, hatte meine Mutter auch noch keine Erfahrung, was unbedingt mitgenommen werden musste. Für mich war klar, was ich brauchte: meine Lederhose, meine Badehose und vielleicht eine neue Taucherbrille. Unser Vater hatte ein nagelneues Motorrad ES 250 mit Beiwagen. Damit sind wir früh am Morgen Richtung Norden losgefahren. Es war noch dunkel und ziemlich frisch. Ich kann mich noch genau an die Sonne erinnern, die über der Haube des Beiwagens, meinem Rennwagen, aufging. Bewegen und frieren konnte ich mich darin nicht, denn überall um mich herum waren Taschen und Beutel verstaut. Wir machten mehrere Pausen und waren schließlich nach 8 Stunden im Norden der Republik angekommen. Wir wurden an unserem Reiseziel von einem strahlend blauen Himmel und herrlichem Sonnenschein empfangen. Das Schönste waren die letzten Schritte über die Sanddüne zum Meer. Auf dem höchsten Punkt der Düne konnte ich zum ersten Mal ein Meer sehen. Die Ostsee hat mich mit ihrem blauen Wasser, den Wellen mit 1000 Schaumkronen und einer salzigen Brise empfangen. Es war ein unvergesslicher Moment. Dieser Urlaub war einer der glücklichsten Momente in meiner Kindheit. Unsere Familie war nie reich, aber es hat immer gereicht, um glücklich zu sein. An der Ostsee lernte ich auch das Steinewerfen. Ich glaube ich habe jeden Tag mehr als hundertmal flache Steine über die Wellen der Ostsee geworfen und tanzen lassen. In Rostock lag zu dieser Zeit ein großes Passagierschiff im Hafen. Es war die „Völkerfreundschaft“, der erste und einzige Luxusliner den die DDR hatte. Später fuhr dieses Schiff als Traumschiff im Fernsehen über die Ozeane. Auch die weiße Stadt in Heiligendamm haben wir besucht. Damals waren die Wege und Gebäude noch für alle Besucher zugänglich. Später wurde ein Hotel daraus gemacht. Der Name Kempinski birgt für Qualität, so dass hier sogar der G 7 Gipfel stattfinden konnte. Hinter einem hohen Zaun kann man heute noch sehen, wie schön die weiße Stadt in Heiligendamm einmal war.
In den Jahren 1956 bis 1960 waren die Menschen in der DDR noch recht zufrieden und lebten gut. Nach dem Tod von Wilhelm Pieck, kam der Genosse Walter Ulbricht, der versprach, dass er keine Mauer bauen wird. Das war seine größte Lüge und es folgten noch viele andere. Meine weitere Kindheit erlebte ich also in der Ära Ulbricht. Wir erlebten die „Diktatur des Volkes“ in der wir immer mehr durch Staatsdiener bespitzelt wurden. Die Motivation dieser Leute war: Vorteile in der Arbeit und bei der Karriere und bessere Studienplätze. Schneller ein Auto oder ein Grundstück für das kleine Häuschen zu erhalten, waren der Anreiz für den Verkauf der Seele an den Staatsteufel. So wie wir als junge Sportler um Kreis- und Bezirksmeistertitel gekämpft haben, haben die Altgenossen um Posten in Kreis und Bezirk gerungen. Der normale Arbeiter hatte davon keine Ahnung und schwenkte die rote Fahne. Spitzensportler, wie Täve Schur, der mehrmalige Gewinner der Friedensfahrt, waren für uns sichtbare Helden. Aber meine eigentlichen Helden waren meine Mutter, mein Vater und meine Schwester. Unsere Heimat war das kleine Dorf mit Nachbarn, Freunden und Verwandten. Unsere Arena waren die Wälder, Wiese, Hügel, Höhlen und Bäche in der näheren Umgebung. Spielerisch haben wir unsere Kräfte beim Werfen, Springen, Rennen und manchmal auch beim Boxen mit fremden Jungs gemessen. Kriegsspiele gab es nie! Wenn wir kämpften, dann wie D’Artagnan, Aramis und Athos, die drei Musketiere der Königin. Unsere Kräfte wuchsen und Stöcke und Holzsäbel reichten bald nicht mehr aus. Aber der Wettstreit untereinander bleib. Wir Kinder lernten in dieser Zeit aber auch Eigenschaften wie Ehrlichkeit und Freundlichkeit. Wehe, wenn man die Leute auf der Straße nicht gegrüßt hat. Das sozialistische System war für mich damals noch nicht spürbar, aber ich spürte schon eine systematische Einteilung der Dinge, die Einfluss auf mein junges Leben hatte. Mit 13 hatte meine Schwester Renate die ersten Verehrer aus unserem Dorf und ich konnte damals schon das Schnurren der jungen Kater unter unserem Fenster hören. So recht verstanden habe ich damals noch nicht, um was es dabei eigentlich geht. Aber die Jungs waren das Beste was mir passieren konnte, denn so hatte ich oft Gelegenheit, die Schlichen und Verstecke im Dorf schon als kleiner Knirps mit zu entdecken.
Manchmal war ich eifersüchtig auf die großen Jungs und habe Renate mit meinem selbst geschnitzten Schwert beschützt. Die Jungs haben dann immer gelacht, das konnte ich gar nicht verstehen.